Zeitzeugnis über ein schweres Eisenbahnunglück
Am 5. August 2015 fanden Bauarbeiter bei Tiefbauarbeiten für die Gasversorgungstrasse auf dem Gelände der ehemaligen Flieger-Technischen Vorschule Oranienburg (alte Postanschrift: Vaters Wille, Post Velten/Mark ) – an der Straßenkreuzung Veltener Chaussee/Bärenklauer Chaussee gelegen – einen 1,05 Meter hohen, im Mittel 0,70 Meter breiten und 0,40 m starken und rund 800 Kilogramm schweren Findling. Im Erdreich vergraben, versperrte er den Trassenverlauf für die neue Gasleitung. Mittels Kleinbagger aufgerichtet, gesäubert und aus dem Trassenbereich gehoben, gab der Stein sein Geheimnis Preis – er trug eine Aufschrift, die ein Datum, einen Ort und mehrere Namen umfassten.
Umfangreiche Recherchen zur Inschrift – Datum, Ort und Namen – dokumentierten, dass sich in der Nacht vom 22. zum 23. Dezember 1939 ein schweres Eisenbahnunglück – das größte seiner Zeit in Deutschland – in der Nähe von Genthin ereignete. Zwei D‑Züge (der D180 von Berlin nach Neunkirchen und der D10 von Berlin nach Köln) waren darin verwickelt, wobei der D180 auf den vorausfahrenden D10 um 0:53 Uhr mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h auffuhr. Bei diesem Zugunglück waren mindestens 186 Tote und 106 Verletzte zu beklagen. Andere Quellen geben 278 Tote und 453 Verletzte an. Auf Grund der sich als besonders schwierig darstellenden Rettungsarbeiten (Kriegszeit, Dunkelheit, Winter und bis zu Minus 15 Grad Kälte) wurden die Opferzahlen immer wieder nach oben korrigiert, aber auf Grund der Geheimhaltung nicht veröffentlicht. Der Lokführer und der Heizer des D180 (Berlin–Neunkirchen) überlebten das Unglück. Obwohl die Unglücksursache nie ganz zweifelsfrei aufgeklärt wurde, verurteilte das Gericht den Lokführer zu 3 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafe.
Auf dem Bahnhof in Genthin ist diesem Unglück seit 1999 ein Denkmal gewidmet. Jährlich versammeln sich an diesem Ort Bürger des Ortes und Vertreter der Stadt, um in stiller Trauer der Toten zu gedenken.
Die auf dem Stein eingravierten Namen sind zweifelsfrei Lehrlingen der ehemaligen Flieger-Technischen Vorschule Oranienburg zuzuordnen, die bei diesem Eisenbahnunglück ums Leben kamen. Ihnen zum Gedenken wurde dieser Stein angefertigt und auf dem Gelände der Flieger-Technischen Vorschule aufgestellt. Die verunglückten Lehrlinge gehörten dem Jahrgang 1938 an (2. Lehrjahr) und waren alle auf einem Zimmer des Wohnheimes – Stube 20 – untergebracht. Bei den Verunglückten handelt es sich um die Lehrlinge:
- Hans Wiethoff aus Gladbeck
- Rudolf Humpohl aus Recklinghausen
- Franz Biebersdorf aus Recklinghausen
- Paul Schulte Strathaus aus Gladbeck
- Wilhelm Preuß aus Recklinghausen
- Rudolf Woytal aus Recklinghausen
Als einziger, der mit in diesem Zug nach Köln fuhr und gleichfalls auf der Stube 20 wohnte, überlebte der Gladbecker Bernd Grenzebach – 17-jährig – dieses schwere Unglück. Er wurde in einem denkbar schlechten Zustand in das Johanniter-Krankenhaus in Genthin eingeliefert und vom Chefarzt Dr. Usbeck, dem Stationsarzt Dr. Menzel und den Stationsschwestern monatelang gesund gepflegt.
Nach dem Krieg und mit Umnutzung der Flieger-Technischen Vorschule in eine FDJ-Schule war dieses Denkmal nicht mehr „zeitgemäß“ und wurde in unmittelbarer Nähe seines Standortes – mit der Aufschrift nach unten – verbuddelt. Das Gewicht dieses Gedenksteines ließ zur damaligen Zeit keine andere Lösung zu. Dieser Umstand garantierte aber, dass ein wichtiges Zeitzeugnis nach rund 76 Jahren seiner Aufstellung wiederentdeckt wurde.
Heute könnte dieser Stein als zeitgeschichtliches Dokument behandelt und wieder aufgestellt werden. Eine menschliche Geste, die einerseits an die verunglückten Jugendlichen erinnert und andererseits in der historischen Vergangenheitsbewältigung ein „Stein des gedanklichen Anstoßes“ und der Diskussion über unsere Vergangenheit auch an diesem Ort werden
könnte.
Dr. Norbert Rohde
Dein Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!