„Wir sind ins kalte Wasser gesprungen“
Erste und letzte freie Kommunalwahl in der DDR im Mai 1990/Horst Eckert wurde Bürgermeister
Wie war das eigentlich 1990, im Jahr zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung? Gedacht war ja anfangs noch an eine neue und tatsächlich demokratische Republik mit entsprechender Verfassung, politischen Gremien und Institutionen. Doch am 18. März wurden bei der ersten und letzten freien Volkskammerwahl der DDR die Weichen für die Deutsche Einheit mit westlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft gestellt. Für die „Allianz für Deutschland“, das Bündnis aus CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU) stimmten 48 Prozent, für die SPD 21,9 Prozent und drittstärkste Kraft wurde die PDS mit 16,4 Prozent. Die im Bündnis90 zusammengeschlossenen Bürgerrechtsgruppen erhielten nur 2,9 Prozent. Die Wahlbeteiligung hatte bei 93,4 Prozent gelegen.
Wenige Wochen später, am 6. Mai, füllten die Leegebrucher u. a. im alten Rathaus an der Birkenallee ihre Stimmzettel für die ebenfalls erste und letzte freie Kommunalwahl der DDR aus. Unsere Gemeinde zählte damals gut 4 100 Einwohner, deren Wahlberechtigte über die Zusammensetzung ihrer Gemeindevertretung entschieden. Klingt normal, oder? Das war es aber keineswegs – denn zu dem Zeitpunkt gab es weder Regelwerke noch verbindliche Vorgaben für die zukünftigen Abläufe. Und auf Erfahrungen in politischer Arbeit konnten die meisten Kandidaten auch nicht zurückgreifen.
„Wir sind damals ins kalte Wasser gesprungen“, erinnert sich Horst Eckert, der nach Etablierung der 19-köpfigen Gemeindevertretung (CDU 10, SPD 6, PDS 3) als parteiloser Kandidat zum hauptamtlichen Bürgermeister gewählt wurde.
Auch wenn sie noch nicht genau wussten, wie es mit der praktischen Arbeit aussehen sollte, waren sie sich doch in einem Punkt alle einig. „Wir wollten etwas tun für Leegebruch, und das anders als vorher“, so der Ingenieur Eckert. Es standen zwar 16 Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung hilfreich zur Seite, doch habe er sich mangels eigener Erfahrung bei mancher Entscheidung auf sein Bauchgefühl verlassen, bemerkt der heute 77-jährige schmunzelnd. Das Bürgermeisteramt hat er 16 Jahre lang ausgeübt.
Was stand nun 1990 an? Leegebruch sollte einen neuen Charakter bekommen. Dazu gehörte zunächst die Verbesserung der Infrastruktur und bauliche Entwicklung. Als Bauherr und Investor konnte noch im gleichen Jahr die Münchener Firma Bremora Wohnbau gewonnen werden, die umgehend mit der Bautätigkeit begann. Erste Wohneinheiten an der Dorfaue waren bereits zwei Jahre darauf bezugsfertig, das neue Ortszentrum Eichenhof wenig später. Schaffung neuen Wohnraums war auch dringend nötig, um die gewünschte Eigenständigkeit Leegebruchs zu erhalten. Und die war erst mit 5.000 Einwohnern gesichert.
Nur einige von vielen Ereignissen des Jahres 1990 sollen hier noch kurz erwähnt werden. Allein die wenigen Beispiele rufen den umfassenden Umbruch in Erinnerung, mit dem die Leegebrucher schon vor dem 3. Oktober und teils noch viele Jahre lang zurechtkommen mussten. Am heftigsten traf es die nach und nach entlassenen Mitarbeiter des VEB Messerschmiede, der schon im Juli von der Treuhandanstalt übernommen und ein halbes Jahr später verkauft wurde. Ein Antrag auf Rückgabe des Betriebes an die früheren Inhaber, die Genossenschaftler, scheiterte noch 1990. Ebenfalls für große Aufregung sorgte das von der letzten DDR-Regierung erlassene, so genannte Modrow-Gesetz, welches die Eigentumsverhältnisse von Häusern und Grundstücken regelte. Die Hauseigentümer konnten die bislang im staatlichen Besitz befindlichen Grundstücke preiswert kaufen.
Das Volkshaus, bis dahin kultureller Mittelpunkt des Ortes, konnte auf Dauer nicht erhalten werden und wurde letztlich 1997 verkauft. Doch zu Silvester des „Vereinigungs-Jahres“, so stand es im Oranienburger Generalanzeiger, wurde im Volkshaus noch einmal ausgiebig getanzt und gefeiert, „von 20 bis 2 Uhr“.
Das Landambulatorium wurde aufgelöst und in die neuen Strukturen des Gesundheitswesens überführt, aus der Polytechnischen Oberschule wurde die Grund- und Gesamtschule Leegebruch (nach 2004 nur noch Grundschule).
Unverändert zeigte sich hingegen nach dem 3. Oktober die Karnevalstradition. Am 11. 11. um 11.11 Uhr zogen wie gewohnt die Narren des Carneval Club Leegebruch zum Rathaussturm. Und am Jahresende erreichte den Bürgermeister noch eine gute Nachricht aus Lengerich: die im Oktober erfolgte Kontaktaufnahme mit der westfälischen Stadt hatte eine so gute Resonanz, dass schon für Januar ein erstes Treffen in Leegebruch verabredet werden konnte. Die Beziehungen standen von Beginn an unter einem guten Stern und mündeten in eine Städtepartnerschaft, die bis heute lebendig gestaltet wird.
Ulrike Unger
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